Es gibt Menschen, die stehen auf, weil es Zeit ist, aufzustehen.
Sie frühstücken, weil das die wichtigste Mahlzeit am Tag ist.
Sie haben ein regelmäßiges Einkommen, weil sich das so gehört, wenn man erwachsen ist.
Sie schätzen, was sie kennen.
Diese Menschen denken, Mitgefühl verdient, wer gute Noten schreibt.
Aufmerksamkeit sollte man denen schenken, die sich bemühen, ein "ordentliches" Leben zu führen.
Nichts geht ihnen über Primärtugenden: Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Fleiß.
Ich habe SO SEHR versucht, eine von ihnen zu sein,
mich in diese Ordnung zu fügen, ihnen zu genügen.
Weil sie einem vermitteln, dies sei die einzige Möglichkeit, zu überleben.
Doch mit jedem weiteren Punkt, den ich auf ihrer Checkliste erfüllte,
Erstickte ich mein Herz und meinen Geist mehr und mehr
- was mir nicht auffiel, weil ich jegliches Gefühl für mich selbst verloren hatte.
Erwachte eines Tages und fand mich in einem nach außen hin perfekt erscheinenden Leben.
Und ich verzweifelte, weil ich mich in meinem makelloses Zuhause nicht geborgen fühlte,
Meinen fleißigen Mann nicht begehrte oder gar ertrug, ihn sprechen zu hören.
Mein ordentliches Studium frustrierte mich nur noch.
Und ich hatte Angst,
Angst, weil ich offensichtlich viel zu verlieren hatte.
Angst, weil ich alles hatte und dennoch nicht glücklich war.
Angst, weil ich als diese Gefühle nicht verstand.
So bemühte ich mich noch mehr.
Mit dem Resultat, dass ich heimlich weinte, wenn keiner hinsah.
Ich weinte aus Enttäuschung von mir selbst und aus Verzweiflung.
Spielte weiterhin meine Rolle, nur halbherzig mit den Augen immer auf Menschen gerichtet,
die in sich zu ruhen schienen, die Glück und Sicherheit ausstrahlten.
Ich fragte mich, was ihr Geheimins war.
Ich flüchtete mich in Bücher...
aß nicht mehr, schlief nicht mehr,
sondern träumte mich in das Leben fiktiver Helden,
solange ich konnte, bis die Müdigkeit überhand nahm.
In diesen toten Seiten beschriebenen Papiers sah ich, was LEBEN war.
Ich las, was es bedeutete, Berührungen zu fühlen.
Ich las, was Leidenschaft war.
Ich las, wie sich Adrenalin auswirkte.
Und ich las von Liebe.
Irgendwann ging mir der Lesestoff aus.
Einen kurzen Moment befürchtete ich,
dass nun alles zu Ende sei und ich keine weitere Dosis Leben mehr finden könnte.
Doch bis dahin hatte ich, ohne es wirklich zu bemerken,
passiv schon so viel erlebt, dass ich über dieses heuchlerische Leben hinausgewachsen war.
Ich wusste nun, was ich wollte:
Ich wollte den kalten Wind spüren und einen Moment innehalten um in den Himmel zu sehen,
statt blind zur Arbeit zu hetzen.
Ich wollte mich Herausforderungen stellen und sie besiegen, wie David gegen Goliath,
sie nicht vermeiden, sondern an ihnen wachsen.
Ich wollte jemandem ansehen und nichts als Zuneigung und Begehren fühlen,
ganz egal, ob er fleißig oder ordentlich oder reich war.
Und ich habe bis heute keinen Moment lang bereut,
dass ich meine (von meiner Seite) lieblose Beziehung beendete,
Meine riesige Altbauwohnung verließ und
mein Studium weiter unten in meine Prioritätenliste ordnete.
Ich habe mich noch nie so frei gefühlt wie an dem Tag,
als ich mit einer Reisetasche und meiner Gitarre in den Zug nach nirgendwo stieg.
Ich wollte kämpfen, überleben, meine Grenzen ausloten,
allein sein, mich selbst finden, ich selbst sein,
jemanden finden, der mich genauso schätzt, wie ich bin.
Seitdem habe ich gelernt, dass es immer wieder bergauf geht,
am meisten, wenns es zuvor bergab ging.
Ich habe gelernt, dass es nicht immer perfekt laufen muss,
sondern reicht, wenn man klar kommt.
Ich habe erfahren, dass ich sehr viel stärker bin, als ich dachte.
Und dass jeder Mensch Aufmerksamkeit und Mitgefühl verdient,
Denn jede Geschichte ergibt, aus Sicht des Protagonisten, Sinn.
Und ich durfte erfahren, was es bedeutet,
jemandem nach über zwei Jahren anzusehen und immernoch zu denken:
"Wie habe ich dich verdient?
Warum zur Hölle liebst du mich?
Hoffentlich endet das nie."
Man kann es als Fluch sehen, zu den Suchenden zu gehören.
Allerdings, wenn man der Sache eine Chance gibt kann man,
meiner Meinung nach, eine sehr viel höhere Lebensqualität erlangen.
Ich bin immernoch dabei, zu mir selbst zu finden.
Aber schon allein die Suche ist eine Erlösung.
Und ich glaube ich finde mich gar nicht so übel.